16. Oktober - Märt. Dionysios d. Areopagit
"Durch die Stufenordnung der Hierarchie ist es bedingt, daß die einen gereinigt werden, die andern reinigen, daß die einen erleuchtet werden, die andern erleuchten, daß die einen vollendet werden, die andern vollenden. Und wie nach diesem Gesetze einem jeden das Nachbild Gottes angemessen sein wird, so wird er zur Teilnahme an Gottes Wirken erhoben werden."
Jede göttliche Erleuchtung strahlt in Güte in buntgebrochenem Lichte in die Gegenstände der Vorsehung und bleibt doch einfach. Aber noch mehr, sie bildet auch in den Wesen, in welche sie einstrahlt, das Eine heraus. (Kap. 1,1)
Denn dieser selbst verliert ja auch nie etwas von der ihm eigenen einheitlichen Einfachheit, während er sich zum Zwecke der anagogischen und einigenden Anpassung an die von der Vorsehung geleiteten Wesen vervielfältigt und (zu ihnen) austritt. Er bleibt vielmehr innerhalb seiner selbst in unbeweglicher Selbstgleichheit unerschütterlich und dauernd fest und zieht diejenigen, welche geziemend zu ihm emporblicken, ihrer Natur entsprechend (zu sich) empor und gestaltet vermöge seiner (eigenen) Wesenseinheit, die eine vereinfachende Kraft besitzt, auch in ihnen das Eine. (Kap. 1,2)
Deshalb hat auch die heilige Satzung, welche dem Urquell aller Weihen entstammt, unsere heiligste (kirchliche) Hierarchie in der Form gewährt, daß sie dieselbe einer überweltlichen Nachahmung der himmlischen Hierarchie würdigte und diese eben erwähnten immateriellen Hierarchien in materiellen Gestalten und zusammengesetzten Gebilden auf mannigfach verschiedene Weise darstellte. Wir sollen nämlich unserer eigenen Natur entsprechend von den heiligsten Gebilden aus zu den einfachen und bildlosen Aufschwüngen und Verähnlichungen erhoben werden. Denn es ist unserm Geiste gar nicht möglich, zu jener immateriellen Nachahmung und Beschauung der himmlischen Hierarchien sich zu erheben, wofern er sich nicht der ihm entsprechenden handgreiflichen Führung bedienen wollte. Und diese findet er darin, daß er die in die äußere Sichtbarkeit tretenden Schönheiten als Abbilder der unsichtbaren Herrlichkeit studiert, darin daß er die sinnlich wahrnehmbaren Wohlgerüche als Typen der geistigen Ausstrahlung und die materiellen Lichter als ein Sinnbild der immateriellen Lichtergießung betrachtet; darin daß er die ausführlichen heiligen Lehrvorträge als einen Widerhall der geistigen, in Beschauung gewonnenen Befriedigung, die Rangstufen der irdischen (kirchlichen) Ordnungen als einen Abglanz des harmonischen und wohlgeordneten Verhältnisses zum Göttlichen, die Teilnahme an der göttlichen Eucharistie als eine Darstellung der Gemeinschaft mit Jesus erkennt. Und das Gleiche gilt von allen übrigen Dingen, welche den himmlischen Naturen auf eine überweltliche, uns aber auf eine symbolische Weise gewährt sind. (Kap. 1,3)
Denn für die Behauptung, daß mit Fug und Recht die Bilder vor das Bildlose und die Gestalten vor das Gestaltlose gewoben sind, möchte einer nicht bloß die uns eigentümliche analoge erkenntnisweise als Grund anführen, welche nicht im Stande ist, zu den geistigen Betrachtungen sich unmittelbar zu erheben und vielmehr geeigneter, naturgemäßer Emporführungsmittel bedarf, welche in den uns fassbaren Gebilden die gestaltlosen und das Natürliche übersteigenden Erkenntnisse verschleiert bieten, sondern auch diesen weiteren Grund, daß dieses Verfahren den geheimnisvollen (heiligen) Schriften am besten ziemt, daß sie nämlich in geheimen und heiligen Rätselworten verborgen werden und daß für die große Menge die geheime und heilige Wahrheit über die überweltlichen Geister unzugänglich gemacht wird. Denn nicht jeder ist heilig und nicht aller ist, wie die Schrift sagt, die Erkenntnis (I. Cor. 8, 7). (Kap. 2,2)
Die Art und Weise der (bildlichen) Offenbarungen eine doppelte ist. Die eine Art (der Offenbarung) nun nimmt, wie es sich geziemt, ihren Weg durch die ähnlichen, heilig geformten Bilder, die andere durch die unähnlichen Gestaltungen und formt diese in einer Weise, daß sie ganz ungeziemend und unpassend erscheinen. Bekanntlich bezeichnen die mystischen Überlieferungen der Offenbarungsschriften die verehrungswürdige Seligkeit der überwesentlichen Urgottheit an den einen Stellen als Logos und Nus und Usie (Wort, Geist und Wesen), um die göttliche Vernunft und Weisheit, sowie die wahrhaft seiende Existenz Gottes und die wahre Ursache der Existenz von allem, was ist, zu offenbaren. Und auch als Licht stellen sie die Urgottheit dar und benennen sie als Leben, figürliche, heilige Bezeichnungen, welche zwar ehrwürdiger sind und über die stofflichen Gestaltungen in gewisser Weise erhaben zu sein scheinen, aber auch so hinter einer wirklichen Ähnlichkeit mit der Urgottheit zurückbleiben. Denn sie ist über jegliche Wesenheit und jegliches Leben entrückt, kein Licht gibt es, das sie kennzeichnen mag, gar kein Gedanke (λόγος) und gar kein Verstand (νοῦς) ist mit ihr zu vergleichen und reicht an eine Ähnlichkeit mit ihr heran. (Kap. 2,3)
Andern Orts wird sie aber auch von ebendenselben Schriften mit Prädikaten negativer Art überweltlich gefeiert, wenn sie dieselbe nämlich als Unsichtbares, Unermeßliches, Unbegrenztes bezeichnen und das hervorheben, woraus nicht abzunehmen ist, was sie ist, sondern, was sie nicht ist. Denn das ist meines Erachtens ihr gegenüber auch mehr berechtigt, weil wir, wie die geheime und priesterliche Überlieferung nahe legte, in Wahrheit sagen, daß die Gottheit nicht nach Art eines der bestehenden Dinge existiere, daß wir aber ihre überwesentliche, unerkennbare und unaussprechliche Unbegrenztheit nicht kennen. Wenn also die verneinenden Aussagen in Bezug auf das Göttliche wahr, die bejahenden dagegen unzutreffend sind, so ist dem Dunkel der unaussprechlichen Dinge die Offenbarung vermittels der unähnlichen Gebilde in dem Gebiet des Unsichtbaren mehr angemessen. (Kap. 2,3)
Man kann also aus allem schöne (geistige) Anschauungen ersinnen und sowohl für die hohen wie für die höchsten Geister (νοητοῖς τε καὶ νοεροῖς) aus dem Gebiet der Materie die erwähnten sogenannten „unähnlichen Ähnlichkeiten“ entnehmen. Natürlich besitzen die geistigen (erkennenden) Wesen das in anderer Weise, was den sinnlich wahrnehmbaren verschieden von jenen zugeschrieben ist. (Kap. 2,4)
Zweck der Hierarchie ist also die möglichste Verähnlichung und Einswerdung mit Gott. Hiebei hat sie ihn selbst zum Lehrmeister in jeglicher hierarchischen Erkenntnis und Wirksamkeit blickt zu seiner göttlichen Schönheit unverwandt empor, gibt dieselbe soweit als möglich im Nachbild wieder und vervollkommnet ihre Mitglieder zu göttlichen Bildern, zu lautersten, fleckenlosen Spiegeln, welche im Stande sind, den urgöttlichen Strahl aus der Urquelle des Lichtes in sich aufzunehmen, zu Spiegeln, welche dann, von dem einstrahlenden Glanze heilig erfüllt, diesen hinwieder neidlos über die nächstfolgenden Ordnungen leuchten lassen, sowie es den urgöttlichen Satzungen entspricht. (Kap. 3,2)
So wird also jede Stufe der hierarchischen Ordnung gemäß ihrem entsprechenden Range zur Mitwirksamkeit mit Gott erhoben, indem sie das, was der Urgottheit ihrem Wesen nach in einer unsere Natur überragenden Weise innewohnt und von ihr überwesentlich gewirkt und zum Zwecke möglichst getreuer Nachahmung der gottliebenden Geister in der Einrichtung der Hierarchie äußerlich kund getan wird, durch Gnade und gottverliehene Kraft vollendet. (Kap. 3,3)
Alles in der Welt nun erfreut sich der Vorsehung, welche aus der überwesentlichen und allursächlichen Gottheit ausgeht. Denn es wäre überhaupt kein Ding, wenn es nicht an dem Wesen und dem Urprinzip von allem Anteil erlangt hätte. Die leblosen Dinge haben durch ihr Sein an ihm Anteil, denn die über alles Sein erhabene Gottheit ist das Sein aller Dinge. Die belebten (vernunftlosen) Wesen haben an seiner über das Leben erhabenen, Leben schaffenden Macht Anteil. Die vernünftigen und intellektuellen Wesen haben an seiner über alle Vernunft und Intelligenz erhabenen, in sich vollkommenen (absoluten) und urvollkommenen Weisheit Anteil. (Kap. 4,1)
Die heiligen Chöre der himmlischen Wesen haben in einem höhern Maße als die Wesen, welche bloß das Sein besitzen, als die unvernünftigen Lebewesen und die vernünftigen Glieder unseres Geschlechtes Anteil an der urgöttlichen Mitteilung. Sie bilden sich in rein geistiger Weise zu Nachbildern Gottes um, schauen überweltlich auf das urgöttliche Vorbild und begehren ihre intellektuelle Gestalt darnach zu formen. Die natürliche Folge davon ist, daß sie stärkere Gemeinschaft mit der Gottheit genießen, da sie beharrlich und immerdar nach dem Höheren, soweit es möglich ist, in der Spannkraft der göttlichen und unwandelbaren Liebe sich nach oben erheben und die Erleuchtungen der Urquelle auf immaterielle und ungetrübte Weise in sich aufnehmen, nach ihnen sich richten und das ganze Leben geistig besitzen. (Kap. 4,2)
Diese Wesen sind es, die an erster Stelle und vielfältig zur Anteilnahme am Göttlichen gelangen und hinwieder zuerst und in mehrfacher Art das Verborgene der Urgottheit offenbaren. Deshalb sind sie auch vor allen besonders mit dem Namen „Engel“ ausgezeichnet, weil die urgöttliche Erleuchtung in sie zuerst einstrahlt und dann durch sie die unsere Erkenntnis überragenden Offenbarungen uns vermittelt werden. (Kap. 4,2)
Denn nicht bloß bei den höherstehenden und tieferstehenden Geistern, sondern auch unter den gleichstufigen ist von dem überwesentlichen Prinzip aller Rangordnungen diese Satzung bestimmt, daß es in jeder Hierarchie erste, mittlere und letzte Ordnungen und Mächte gebe und daß die göttlicheren den geringeren als Mystagogen und Führer zur Nähe, zur Erleuchtung und Gemeinschaft Gottes dienen. (Kap. 4,3)
Wir behaupten nun, daß in jeder heiligen Ordnung die höhern Abteilungen auch die Erleuchtungen und Kräfte der tieferstehenden besitzen, daß dagegen die letzten Stufen der Vorzüge der höhern nicht teilhaftig sind! (Kap. 5)
Fragmente aus "Himmlische Hierarchie (De caelesti hierarchia)" - Dionysius Areopagita († 96)