Einleitung
Patriarchen in kunstvollen Gewändern, Ikonenverehrung, Chorgesänge und duftender Weihrauch - all das verbinden wir mit "Orthodoxem Christentum". Während die einen unter Orthodoxie eine altertümliche Form des Christentums sehen, sind andere wiederum von ihrer kultischen Mystik und Spiritualität angetan. Beide Wahrnehmungen sind allerdings zu einseitig und tragen vielfach zu einem verfälschten Bild der Orthodoxie bei. Ein kurzer geschichtlicher Abriss ist für ein besseres Verstehen des Orthodoxen Christentums notwendig.
Geschichte
Die Orthodoxe Kirche nennt sich selbst einfach "die Kirche", gerade so, wie die Griechen in der Vergangenheit das Wort "Christen" gebrauchten, wenn sie die Orthodoxen meinten. Dies ergibt sich naturgemäß aus der Tatsache, dass die Östliche Orthodoxe Kirche in organischer Fortsetzung dieselbe Gemeinde oder "ecclesia" ist, deren Geburtsstunde die Ausgießung des Heiligen Geistes an Pfingsten in Jerusalem war. Sie steht in direkter Sukzession der auf Jesus von Nazareth zurückgehenden Jerusalemer Urgemeinde und der apostolischen Gemeindegründungen außerhalb Palästinas.
Im Jahr 395 n. Chr. erfolgte die Teilung des römischen Imperiums in einen west- und einen oströmischen Reichsteil. Konstantinopel wurde zur Hauptstadt des oströmischen Reichs, das bis zur Eroberung durch die Türken 1453 existieren sollte. Mit der Hauptstadtwürde bekam Konstantinopel auch die kirchlichen Ehrenrechte Roms übertragen. Konstantinopel wurde so zum zweitwichtigsten Zentrum der damaligen Kirche. Neben den Patriarchaten (Patriarchat: kirchliche Zentralstelle, vergleichbar mit dem Bischofssitz einer Diözese) Rom und Konstantinopel entstanden auch die Patriarchate Alexandrien, Antiochien und Jerusalem. Innerhalb der Gemeinschaft der selbstständigen Kirchen hatte der Bischof von Rom (der Papst) den Rang als „primus inter pares“ (erster unter gleichen) inne, gefolgt vom Patriarchen von Konstantinopel. Durch Machtkämpfe zwischen Rom und Konstantinopel kam es immer wieder zu Streitigkeiten, die jedoch beigelegt werden konnten. Auch im Jahre 1054 war es wieder einmal soweit. Unterschiedliche theologische Meinungen und gegenseitige Bannsprüche (die erst 1965 wieder aufgehoben wurden) zwischen West- und Ostkirche führten schließlich zur Kirchenspaltung. So kam in der Ostkirche dem Patriarchen von Konstantinopel der erste Rang zu, den er bis heute inne hat.
Über das Verhältnis der orthodoxen Kirche zu nicht-orthodoxen Konfessionen und interkonfessionellen Organisationen
Die Russisch-orthodoxe Kirche hält strikt an der im Glaubensbekenntnis formulierten Lehre fest, der gemäß die Kirche Christi eins ist.
Da der Leib Christi das einzige Gefäß der Rettung ist, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit, so hat sie sich nie gespalten und ist nie verschwunden, sondern überlieferte im Verlauf der ganzen Geschichte des Christentums immer die reine Lehre des Evangeliums in der Fülle der Gnadengaben des Heiligen Geistes.
Die Kirche ist, gemäß dem vom Herrn Jesus Christus Selbst erteilten Auftrag, dazu aufgerufen, ihre apostolische Mission zu verwirklichen und „das Evangelium aller Kreatur" (Mk 16,15) zu verkünden. Aus diesem Grund hat die Russische Kirche im Verlauf ihrer tausendjährigen Geschichte sowohl die Völker, unter denen sie lebte, als auch die Völker der umliegenden Länder mit dem Licht Christi erleuchtet. Gleichzeitig war sie darum bemüht, abgespaltene Christen anderer Konfessionen in den rettenden Schoß der Kirche zurückzuführen und setzte mit diesem Ziel unter Berücksichtigung ihrer Entfernung vom Glauben und von den Praktiken der Alten Kirche noch im 19. Jahrhundert Sonderkommissionen für den Dialog mit ihnen ein. Bis in die 60-iger Jahre des 20. Jahrhunderts entsandte die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland (Russische Auslandskirche), in der Hoffnung, daß durch die Teilnahme an solchen interkonfessionellen Treffen Christen anderer Glaubensbekenntnisse die Möglichkeit erhalten, sich mit der Orthodoxie vertraut zu machen, ihre Vertreter immer wieder zu solchen Begegnungen. Die Ziele einer solchen Beteiligung an diesen Begegnungen waren in dem Beschluß des Synods der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland vom 18. / 31. Dezember 1931 formuliert.
„Im Glauben an die Einige, Heilige, Katholische und Apostolische Kirche, bekennt der Bischofssynod, daß diese Kirche sich nie geteilt hat. Es stellt sich lediglich die Frage, wer zu ihr gehört und wer nicht. Gleichzeitig begrüßt der Synod aufs herzlichste alle Versuche anderer christlicher Konfessionen, die Lehre Christi über die Kirche zu erforschen, in der Hoffnung, daß durch diese Beschäftigung, insbesondere wenn die Heilige Orthodoxe Kirche daran teilnimmt, sie schließlich zu der Überzeugung kommen, daß die Orthodoxe Kirche, als Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit (1 Tim 3,15) die Lehre vollkommen und ohne irgendwelche Fehler bewahrt hat, so wie es der Erlöser Jesus Christus seine Schüler gelehrt hat."
Dessen ungeachtet, beschritt ein Großteil der protestantischen Welt im Laufe seiner Entwicklung den Weg des humanistischen Liberalismus und verliert immer mehr die Bindung an die Überlieferungen der Heiligen Kirche, indem sie nach eigenem Gutdünken die von Gott festgesetzten moralischen Normen und dogmatischen Lehren verändert und sich somit in den Dienst der Interessen einer Verbrauchergesellschaft stellt, indem sie sich der Bequemlichkeit und politischen Zielsetzungen unterwirft. Wie „das Salz, das nicht mehr salzt" (Mt 5, 13) haben solche Gemeinschaften die Kraft verloren, den menschlichen Leidenschaften und Lastern entgegenzuwirken.
Tendenzen dieser Art rufen eine große Besorgnis hervor und veranlassen die Orthodoxe Kirche zu einer Überprüfung ihrer Beziehungen zu einzelnen Konfessionen, sowie zu interkonfessionellen Organisationen. Dieser Frage hat sich insbesondere das Interorthodoxe Treffen in Thessaloniki (1998) gewidmet. Die Praxis der interkonfessionellen Beziehungen wurde in den vom Bischofskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche (2000) angenommen Grundregeln der Beziehungen der Russisch-Orthodoxen Kirche zu anderen Konfessionen auf das Gründlichste analysiert. Es wurde festgestellt, dass, sollten diese genannten negativen Tendenzen in den interkonfessionellen Organisationen weiter vorherrschen, die Orthodoxen gezwungen wären, diese zu verlassen. Aus diesem Grund ist es notwendig, daß in nächster Zeit die Frage geklärt wird, in wie weit die bestehenden Formen der interchristlichen Zusammenarbeit es den orthodoxen Vertretern erlauben, sich von der Teilhabe an Ansichten und Praktiken, die dem Geist der Orthodoxie widersprechen, fernzuhalten. Bedingung für eine Teilnahme der Orthodoxen Kirche an interkonfessionellen Organisationen, darunter auch im Weltkirchenrat, ist der Ausschluß jeglichen religiösen Synkretismus. Die orthodoxen Christen bestehen auf ihrem Recht, frei den Glauben an die Orthodoxe Kirche als die Eine, Heilige, Katholische und Apostolische Kirche ohne jedweden Zugeständnisse an die so genannte „Zweigtheorie" zu verkünden und lehnen jegliche Versuche zu Verwässerung der orthodoxen Ekklesiologie strikt ab.
Die Orthodoxe Kirche schließt jegliche Möglichkeit einer liturgischen Gemeinschaft mit Nicht-Orthodoxen aus. Insbesondere gilt die Teilnahme Orthodoxer an liturgischen Handlungen, die mit sogenannten ökumenischen oder interkonfessionellen Gottesdiensten in Verbindung stehen, als unzulässig. Im Großen und Ganzen müssen die Formen der Wechselbeziehungen mit Nicht-Orthodoxen von der Kirche entsprechend ihrer Lehre, der kanonischen Disziplin und kirchlicher Sinnhaftigkeit in konziliarer Form festgelegt werden.
Dabei wird die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit Nicht-Orthodoxen, zum Beispiel, zum Schutz von Armen oder der Verteidigung von Unschuldigen, im gemeinsamen Kampf gegen Unmoral, in der Realisierung von Wohltätigkeits- sowie Bildungsprojekten nicht abgelehnt. Auch kann die Teilnahme an gesellschaftlich relevanten Zeremonien, bei denen andere Konfessionen ebenso vertreten sind, angebracht sein. Darüber hinaus bleibt der Dialog mit Nicht-Orthodoxen notwendig, um ihnen von der Orthodoxie Zeugnis abzulegen, um Vorurteile zu überwinden und irrige Meinungen abzubauen. Dabei sollte man nicht versuchen, die real existierenden Unterschiede zwischen der Orthodoxie und anderen Konfessionen zu verwischen.
In der orthodoxen Tradition entwickelte sich die Vorstellung von einer Symphonie zwischen geistlicher und weltlicher Macht als idealer Form der Beziehung zwischen Staat und Kirche. Die Symphonie geht davon aus, daß für die Kirche und die Gläubigen Bedingungen für ein freies kirchliches Leben geschaffen werden, das die Gläubigen zur ewigen Rettung führt „damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit" (1.Tim 2, 2).
Da den Worten Gottes entsprechend „die Welt im Argen liegt " (1. Jh 5, 19), ist das Ideal einer solchen Symphonie nie in vollem Umfang verwirklicht worden. Als Folge der Petrinischen Reformen wurde diese Symphonie faktisch durch ein System staatlicher Kirchlichkeit ersetzt, in dem der Staat die Kirche ihrer vollen Selbständigkeit beraubte.
Im 20. Jahrhundert, nach dem bolschewistischen Umsturz, begann in Rußland eine nie dagewesene Verfolgung der Kirche. In diesen Jahren hat die Russische Kirche dank der Vorsehung Gottes die große Schar der heiligen Neumärtyrer und Bekenner Russlands hervorgebracht. Nicht alle haben dieser Zeit der Verfolgungen standgehalten. Einige Geistliche und Laien, verstießen gegen die Wahrheit Gottes und halfen den Verfolgern bei ihren auf die Zerstörung der Kirche ausgerichteten Taten. Dieses Vorgehen kann unter keinen Umständen als zulässig angesehen und gerechtfertigt werden; es verdient jegliche Form der Verurteilung, um einer Wiederholung vorzubeugen, für den Fall, daß der Herr erneute Verfolgungen zuläßt.
In dieser Zeit der Verfolgungen haben sich verschiedene Denkansätze hinsichtlich einer Sinngebung der Beziehung von Kirche und Staat herauskristallisiert. Die einen Kirchenträger hielten es für notwendig im Umgang mit den der Kirche feindlich gesinnten Machthabern den Weg des Kompromisses zu beschreiten, um so die kirchlichen Strukturen für einen offenen Dienst für das Volk Gottes zu erhalten. Andere lehnten diesen Weg ab. Schließlich waren die einen wie die anderen schrecklichen Repressionen ausgesetzt. Diese beiden Ansätze spiegeln sich auch in den bedauernswerten Spaltungen innerhalb der Russischen Kirche wieder, die in den nachfolgenden Jahrzehnten allmählich überwunden wurden.
Auf Grund der bitteren Erfahrung der Kirche im 20. Jahrhundert und basierend auf den Zeugnissen der Neumärtyrer, muss eine Trennlinie gezogen werden, was in den Beziehungen zwischen Kirche und Staat, insbesondere wenn es Staaten sind, die die völlige Vernichtung der Kirche und des christlichen Glaubens zum Ziel haben, zulässig und was unzulässig ist. Die orthodoxen Christen sind zu der Erkenntnis gelangt, daß eine Verabsolutierung der staatlichen Macht unzulässig ist. Insbesondere ist eine der Auslegung und dem Geist der Heiligen Väter widersprechende Verwendung von Texten aus der Heiligen Schrift (zum Beispiel, Römer 13, 1-5) unannehmbar. Die irdische und vergängliche Macht des Staates wird in dem Maße als wertvoll anerkannt, in dem seine Macht dem Erhalt des Guten und der Einschränkung des Bösen dient.
Über die Beziehung von Kirche und Staat wurde sehr ausführlich in dem Dokument gesprochen, das für die Geschichte und das Selbstverständnis der Russischen Kirche im Ausland sehr wichtig ist, nämlich dem Sendschreiben des Bischofskonzils der Russischen Auslandskirche aus dem Jahr 1933:
„Solange die Kirche auf der Erde existiert, bleibt sie auf das Engste mit dem Schicksal der menschlichen Gesellschaft verknüpft und kann nicht als außerhalb von Zeit und Raum stehend gedacht werden. Es ist für sie unmöglich, ohne jeglichen Kontakt mit einer so mächtigen gesellschaftlichen Organisation, wie dem Staat, zu stehen, anderenfalls müsste sie sich aus der Welt zurückziehen. Der Versuch die Einflußsphären von Kirche und Staat nach dem Prinzip zu trennen: der ersten gehört die Seele, dem zweiten – der Leib des Menschen – erreicht natürlich nie dieses Ziel, denn der Mensch kann nur in der Abstraktion in zwei getrennte Teile geteilt werden, in der Realität bilden sie aber ein untrennbares Ganzes, und nur der Tod vermag dieses Bündnis zwischen ihnen zu lösen. Deshalb lässt sich auch das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat nie im wirklichen Leben vollends realisieren".
Zu dieser Frage äußerte sich ebenso das Bischofskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche im Jahr 2000 in seiner Sozialdoktrin:
„In allem, was ausschließlich die irdische Ordnung der Dinge betrifft, ist der orthodoxe Christ verpflichtet, sich den Gesetzen zu unterwerfen, unabhängig davon wie vollkommen oder unvollkommen sie sind. Wenn aber die Erfüllung des Gesetzes und seiner Forderungen das ewige Heil gefährdet, den Abfall vom Glauben bzw. das Begehen einer anderen zweifelsfreien Sünde gegenüber Gott und dem Nächsten beinhaltet, so ist der Christ aufgerufen, um der Wahrheit Gottes und der Errettung der Seele für das Ewige Leben willen, heldenmütig als Bekenner aufzutreten. Seine Pflicht ist es, offen und auf legalem Weg gegen offensichtliche Verstöße der Gesellschaft oder des Staates gegen die Gebote und Anordnungen Gottes auftreten, und sollte dies unmöglich oder nicht wirksam sein, so ist er zu zivilem Ungehorsam verpflichtet. (IV.9)
„Die Kirche wahrt dem Staat gegenüber Loyalität, jedoch steht über dieser Loyalitätspflicht das Göttliche Gebot der unbedingten Erfüllung des Heilsauftrags unter allen Bedingungen und unter allen Umständen.
Wenn die staatliche Macht die orthodoxen Gläubigen zur Abkehr von Christus und Seiner Kirche sowie zu sündhaften, der Seele abträglichen Taten nötigt, so ist die Kirche gehalten, dem Staat den Gehorsam zu verweigern." (III.5)
Die Kirche ist gehalten, auf den Staat und seine Bürger geistigen Einfluß auszuüben, von Christus zu künden und die moralischen Prinzipien der Gesellschaft zu verteidigen. In der Wechselbeziehung mit dem Staat zum Wohle des Volkes darf die Kirche jedoch keine staatlichen Funktionen übernehmen. Der Staat seinerseits darf sich nicht in die inneren Angelegenheiten, die Leitung oder das Leben der Kirche einmischen. Der Kirche obliegt es, alle guten Unterfangen im Staat zu unterstützen, sie muß sich aber gleichzeitig dem Bösen widersetzen, unmoralischen und schädlichen gesellschaftlichen Erscheinungen entgegenwirken und stets strikt die Wahrheit verkünden, und bei neuerlichen Verfolgungen weiterhin offen die Wahrheit bezeugen und bereit sein, um Christi Willen auch den Weg der Bekenntnis und des Märtyrertums zu beschreiten.
Quelle: Der Bote/2005/4